m4music 2019:
Wenn sich in Zürich einmal im Jahr alles um Musik dreht

In Reviews by indiespect

Mehr als Konzerte: Conference, Keynote Talk und Networking

Fast noch spannender als das Konzert-Line-Up des m4music-Festivals sind jeweils die Themen der Vorträge am Nachmittag. Hier wird in das Musikbusiness eingetaucht und Künstler, Medienschaffende oder Interessierte können sich einen spannenden Einblick in die Branche verschaffen. So wird beispielsweise über das Thema Syncs gesprochen und wie man es als Musiker schafft, dass seine Songs für Werbung oder einen Film verwendet wird. Es ist unglaublich komplex, wie viele rechtlichen Komponenten gegeben sein müssen, damit die Kette richtig funktioniert. Beim Panel geben Experten aber auch konkrete Tipps. So unter anderem, dass man sich als Musiker überlegen sollte, was man überhaupt erreichen möchte und welches Genre für einen passt. Die Profis legen ihnen beim Talk ans Herz, sich lieber mit einem individuellen Anschreiben an sie zu wenden, anstatt massenhaft E-Mails zu verschicken, bei denen man merkt, dass sie völlig standardisiert und ich-bezogen sind.

Marcus Wiebusch

Marcus Wiebusch: Sänger, Label-Chef, Punk

Marcus Wiebusch im Talk: Kettcar-Sänger, Label-Chef und Punk

Eine kurze Zusammenfassung. Marcus Wiebusch, der gebürtige Heidelberger ist mit elf Jahren nach Hamburg gezogen. Dort fand er sich später in der Punk-Szene wieder und war mit der politischen Band ...But Alive von 1991 bis 1999 aktiv. Um auch mal etwas andere Themen besingen zu können, gründete Wiebusch 2001 Kettcar. Da niemand ihr erstes Album veröffentlichen wollte, gründete er kurzerhand mit Bandkollege Reimer Bustorff und Thees Uhlmann von Tomte das Label Grand Hotel van Cleef. Mittlerweile ist die Band zu den ernsten Themen zurückgekehrt. Pünktlich zum ersten Festivaltag  von m4music erscheint die neue EP mit dem Titel Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich). Egal ob es um die Digitalisierung oder scheinheilige Charity-Events der Oberschicht geht, Kettcar zeigen wieder ihr Talent zu raffinierten und aussagekräftigen Texten. Weil es noch immer so viel zu sagen gibt, ist Wiebusch wie auch beim Album Ich vs. Wir dem Sprechgesang treu geblieben. Während dem Talk werden auch zwei Musikvideos gezeigt, zum einen Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun), zum anderen Der Tag wird kommen von Marcus Wiebuschs Soloalbum Konfetti. Auffallend genau schaut sich der Sänger diese auf dem Bildschirm gebannt an und bewegt während den Songs stumm die Lippen zum Text mit.

Frank Carter & The Rattlesnakes

Frank Carter & The Rattlesnakes stellen alles auf den Kopf.

Frank Carter & The Rattlesnakes: Ein Wirbelwind in der Box

Ursprünglich sollte Frank Carter im Moods auftreten. Doch es scheint, als hätte er zu viel Material mitgebracht, um auf dieser Bühne Platz finden zu können. Also wurde sein Auftritt kurzerhand in die Box verlegt. Dass das m4music kein gewöhnliches Festival ist, zeigt sich auch immer wieder bei den Konzerten. Die Stimmung ist etwas weniger ausgelassen als bei normalen Shows. Die Besucher beobachten vielmehr interessiert, wer sich wie präsentiert. Aber es wird schnell klar, mit Frank Carter & The Rattlesnakes läuft das nicht so. Innert kürzester Zeit steht er auf die Bar und macht einen Handstand auf den Schultern der Zuschauer. Mit seinen zahlreichen Tattoos wirkt er bedrohlich, doch seine Ansagen sind voller Empathie. Vor allem für die Frauen im Raum, setzt sich der Vater einer kleinen Tochter ein. Es könne nicht sein, dass sie nicht crowdsurfen wollen, nur weil sie Angst haben müssten, von irgendwelchen widerlichen Kerlen begrapscht zu werden. Bei seinem Konzert passiere das nicht, sonst würde der Besagte es mit ihm und der Band zu tun kriegen. Diese starke Aussage verleitet zahlreiche Damen dazu, seiner Aufforderung zu folgen und sich auf den Händen nach vorne tragen zu lassen.

Kettcar

Kettcar und die versteckte Bläser-Sektion

Kettcar trumpfen mit neuer Bläser-Sektion auf

Nicht nur beim Keynote-Talk ist Marcus Wiebusch auf der Bühne zu sehen. Am Abend spielt er mit seiner Band Kettcar ein energiegeladenes Konzert in der Halle des Schiffbaus. Unterstützt werden sie dabei von einer dreiköpfigen Bläser-Sektion. Perfekt abgemischt, geben sie den Songs der Hamburger noch einmal eine neue Dimension und Tiefe. Die Setlist enthält mit Palo Alto zwar nur einen der Titel der neuen EP, doch dafür ist sie ansonsten prall gefüllt mit Hits der vergangenen Jahre. Nach 17 Jahren erhält der Track Balkon Gegenüber von Kettcars Debütalbum Du und wieviel von deinen Freunden sogar endlich eine zweite Strophe aus der Sicht des Beobachteten aus dem ursprünglichen Text. Kettcar sind seit Veröffentlichung ihres Albums Ich vs. Wir definitiv auf dem Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere angekommen.

Lord Kesseli & The Drums

Ein beeindruckendes und zugleich etwas verstörendes Bild: Lord Kesseli & The Drums

Lord Kesseli & The Drums: Weihrauch vernebelt die Sinne

Ein Tag am m4music dauert ganz schön lange. Da fliesst bei den meisten Besuchern das eine oder andere Bier. Wessen Sinne aber um 1.15 Uhr noch nicht benebelt sind, der wird spätestens bei Lord Kesseli & The Drums ein Schwindelgefühl im Kopf bekommen. Schon beim Betreten der Box weht einem der intensive Geschmack von Weihrauch entgegen, viel stärker als man es aus jeder Kirche kennt. Auch die Protagonisten auf der Bühne passen in diese Szenerie. Wie ein Franziskaner-Mönch tritt der St. Galler Sänger Dominik Kesseli auf. Michael Gallusser sorgt am Schlagzeug mit derweil seinen Dreadlocks für Aufmerksamkeit. Der Sound selbst ist vielschichtig und lässt die Zuhörer in eine Traumwelt entschwinden. Am Ende ist nicht ganz leicht zu sagen, welcher Aspekt, am meisten Einfluss auf das Konzerterlebnis hat. Ist es das Bier, der Weihrauch, die Optik, die Musik oder die Kombination aus allem, die Lord Kesseli & The Drums so aussergewöhnlich machen? Auf jeden Fall macht das Duo grossartige Musik.

Temples

Haarpracht und eine glasklare Stimme: James Bagshaw von Temples

Eine Zeitreise mit Temples

Bisher haben die Engländer von Temples zwei tolle Alben veröffentlicht. Sie spielen mit der Nostalgie der 60er- und 70er-Jahre und schaffen es dennoch frisch und eigenständig zu klingen. Mit Schlaghosen und abenteuerlichen Frisuren erscheinen Temples auf der Bühne. Mit dem ersten Bass-Ton erzeugen sie bereits eine unglaubliche Spannung, die durch die glasklare Stimme von James Bagshaw noch verstärkt wird. Auch hier ist der Sound sogar in den vordersten Reihen hervorragend abgemischt. Diese Perfektion erlaubt kaum Fehler, alles wäre hörbar. Doch darüber müssen sich Temples keine Sorgen machen, sie spielen mit einer gefühlt fehlerlosen Leichtigkeit. Die Songs von Sun Structures und Volcano legen einen psychedelischen Klangteppich über die Zuschauer im Schiffbau. Es ist keine Musik, die zu ekstatischen Tanzeinlagen einlädt, vielmehr dringt sie in die Tiefe ein und lässt einen die Augen schliessen. Ein Highlight auszumachen ist schwierig. Das Set enthält mit Certainty, Keep In The Dark, Stange Or Be Forgotten oder dem abschliessenden Shelter Song einfach zu viele davon. Ein Wunder, dass die Halle nicht aus allen Nähten platzt.

As the shadows lighten up the day
Through the cons we laugh away
Like a windy day thats always wrong
We take shelter where we canShelter Song, Temples

Fazit

Nach einem Wochenende am m4music bräuchte man eigentlich gleich noch einmal ein paar Tage frei. Es ist eine intensive Kombination aus interessanten Gesprächen und Konzerten. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich auf einige Fixpunkte zu konzentrieren und den Rest spontan zu erleben. Eines ist aber klar. Das m4music ist ein extrem wichtiger Anlass für die gesamte Musikszene der Schweiz.