Andrea Bignasca: Die Rückkehr der Clubkonzerte
Im Sommer konnte Andrea Bignasca seine ersten Auftritte seit langer Zeit spielen. Dem Berufsmusiker fehlte während der konzertfreien Zeit ein wichtiger Teil seines Lebens. An den Zermatt Unplugged Summer Weekends hatte der Tessiner endlich die Gelegenheit die Songs vom neuen Album Keep Me From Drowning live aufzuführen. Es folgten weitere Openair-Shows, wie ein Gig an der etwas anderen Ausgabe der Musikfestwochen Winterthur. Diese fand in diesem Jahr auf verschiedenen Winterthurer Plätzen und Parks statt. Nun, da der Herbst Einzug hält, geht die Reise für Bignasca in eine schon fast vergessene Welt – die Clubs. Gestern besuchte er die Kammgarn Schaffhausen. Es gab einiges zu feiern.
Andrea Bignasca hat Schaffhauser Wurzeln.
Vom Süden in den Norden – und doch in der Heimat
Zwar ist Andrea Bignasca in Lugano zur Welt gekommen und im Tessin aufgewachsen, seine Mutter war jedoch Schaffhauserin. Obwohl der Musiker nie in der Munotstadt gewohnt hat, verbindet ihn also ein emotionales Band mit Schaffhausen. Zum Konzert in der Kammgarn versammelte sich seine gesamte Verwandtschaft aus dem Norden im Club. Alle, bis auf den 95-jährigen Nonno, der aber auch schon viele Auftritte seines Enkels besucht hat. Dass die Schwester von Bignasca um Mitternacht ihren 30. Geburtstag feiern würde, machte den Abend noch emotionaler.
Wozu ein Studium in Literaturwissenschaften führen kann
Seit 2015 ist Andrea Bignasca Berufsmusiker. Nach seinem Studium in Literaturwissenschaften setzte er alles auf eine Karte. Doch auch wenn die Karriere eine andere wurde, so hat der Tessiner sein Studium genutzt und Musik mit tiefgründigen Texte geschrieben. Dass die englische Sprache für ihn wie eine Muttersprache ist, hat sicher geholfen, diese so vielseitig zu gestalten. Es wirkt wie das natürlichste der Welt, wenn Bignasca seine Songs auf die Bühne bringt. Die kräftige Stimme des bärtigen Sängers wird von leidenschaftlichem Gitarrenspiel untermalt. Unterstützung erhält er dabei von seiner nicht weniger leidenschaftlichen Band.
Endlich darf Andrea Bignasca wieder seiner Bestimmung nachgehen.
Die zwei Welten von «Keep Me From Drowning»
Das dritte und aktuelle Album Keep Me From Drowning ist in zwei komplett unterschiedlichen Welten entstanden. Die Musik schrieb Bignasca bereits in einer Zeit, die schon sehr lange her scheint – vor Corona. Als klar wurde, dass keine Auftritte möglich sind, zog er 2020 zu seiner Freundin nach Lissabon. In der Hauptstadt Portugal sind mitten in der Pandemie die Texte entstanden. Zwischen beiden Welten habe er sich teilweise wie ein Seemann gefühlt, der auf weiter See seinen Weg durch einen Sturm finden müsse. Die Liebe war für ihn in dieser schwierigen Zeit der sichere Hafen, der ihn vor dem Ertrinken rettete. Davon handelt auch der gleichnamige Song Haven, zu welchem der Sänger in Lissabon ein Video gedreht hat. Ebenso ist dieses Gefühl Titelgeber des ganzen Albums Keep Me From Drowning.
Füdli gwaggle!
Als die ersten Töne von Where Things Grow Mean erklingen, stehen plötzlich drei Damen vor der Bühne. Sie führen einen Tanz auf, der an das dazugehörige Musikvideo erinnern. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um einen Teil der Bignasca-Familie handelt. Darunter auch die Schwester des Sängers. Als dieser die Performance entdeckt, zaubert ihm die Einlage nämlich ein breites Grinsen auf die Lippen. Kurz darauf stimmt er mit Band und Publikumsunterstützung ein herzliches Tanti auguri an, bevor er seine Schwester auf Schweizerdeutsch auffordert: Füdli gwaggle! Es sind diese persönlichen Momente und die Natürlichkeit, die zusammen mit den musikalischen Fähigkeiten, die Wirkung von Andrea Bignasca ausmachen. Auf der Bühne steht ein herzensguter Mensch, der seine Passion lebt und dankbar ist, damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Schlagzeuger und Backgroundsänger in einem.
Die Vorstellung von einem Leben ohne Musik
Der Song Trouble vom Debütalbum Gone (2015) handelt davon, wie es wäre, wenn plötzlich niemand mehr seine Musik hörte und er dadurch nicht sein Leben der Kunst widmen kann. Während Corona habe er oft gespürt, wie sich das anfühlen würde. Erst auf der Bühne entwickeln die Kompositionen ein zweites Leben. Sie wären nicht vollkommen, wenn diese Komponente nicht existieren würde. Der Track ist live eine Wucht und dauert deutlich länger als die Studioversion, welche eine Laufzeit von etwas mehr als drei Minuten hat. Und das ist gut so! Genau durch die berauschenden Instrumentaleinlagen entsteht dieses magische, zweite Leben eines Songs.
Up there another man, working
They've put me aside, resting
I used to work at night, chanting
Well I don't anymore, ain't it saddening?
Auch wenn Bignasca gerne ernste und traurige Songs schreibt, so lässt er die Zuschauer doch nie zu melancholisch werden. Mit seiner positiven Ausstrahlung und der Spielfreude heitert er die Stimmung nach jedem noch so schweren Track sofort wieder auf. Es ist nicht verwunderlich, dass er nach einer letzten Zugabe in freundlich lachende Gesichter blickt. Die Liebe, die er seiner zweiten Heimat entgegenbringt, wird ganz offensichtlich erwidert.
Tiefründig und herzlich: Andrea Bignasca
Fazit
Durch die Zertifikatspflicht ist eine andere Pflicht aufgehoben worden. Ohne Masken wirkt das Konzerterlebnis in der Kammgarn befreiter und wie früher. Andrea Bignasca und seine Band haben mit ihrer Präsenz die Besucher beglückt. Dass der Sänger von seiner Familie umgeben war und seine Schwester einen runden Geburtstag feierte, machte den Abend noch emotionaler.