20 Jahre m4music: Entdecken, Vernetzen, Fördern

In Reviews by indiespect

Entdeckergeist seit 20 Jahren

Vor 20 Jahren gründete Philipp Schnyder von Wartensee ein Festival namens m4music. Seither entwickelte es sich zum Treffpunkt der Schweizer Musikszene sowie zu einem Ort, um neue Musik zu entdecken. Die Kombination aus spannenden Panels und frischer Musik machen es hierzulande einzigartig. Rund um das Gelände vom Schiffbau finden in den Locations Exil, Moods, Box sowie der Halle des Schiffbaus Diskussionsrunden und Konzerte statt. Für das Jubiläumsprogramm haben die Macher wiederum ein äusserst abwechslungsreiches und spannendes Programm zusammengestellt.

Flake (Rammstein) liest aus seiner Autobiografie. Eine Mischung aus Tragik und trockenem Humor.

Der Tastenficker – Lesung mit Flake (Rammstein)

So gar nicht wie ein Rockstar wirkt der Mann, der mit Brille und Hemd auf dem Stuhl sitzt. Für eine Lesung seiner Autobiografie hat er den Weg in die Labor-Bar gleich gegenüber des Schiffbaus gefunden. Kein Wunder erkennt man ihn beinahe nicht. Normalerweise steht Christian Lorenz, wie Flake mit bürgerlichem Namen heisst hinter dem Keyboard bei der international grössten deutschen Rockband. Er ist der Tastenficker von Rammstein. So wurden Pianisten damals in der DDR genannt, als er aufwuchs.

Es war ein langer Weg, der ihn zum Rockstar machte und die Kindheit gestaltete sich alles andere als glamourös. In seiner Kindheit wurde Flake in der Schule regelmässig gemobbt. Dass der dünne Junge eine Niete im Sport war und zusätzlich an einer Atemwegs-Erkrankung litt, machte es für ihn nicht leichter. Als er den Wunsch äusserte, Klavierspielen zu lernen, waren seine Eltern nicht bereit, Unsummen für ein Instrument auszugeben. Sie wollten, dass er erst beweisen musste, wie ernst ihm dieser Wunsch war. Also malte er sich die Tasten einen Karton, sodass er die in der Klavierstunde aufgetragenen Stücke üben konnte. Der Vorteil war, dass er so niemanden durch Lärm störte, aber der junge Flake wusste dafür nicht, ob er alles richtig machte, bis zum nächsten Besuch bei der Musiklehrerin.

Jedoch merkte der Vater, dass es dem Sohn doch ernster war, als erst geglaubt. So kaufte er ihm eine alte Orgel für 2000 Mark. Dies legte den Grundstein für Flakes Lebensweg. Es folgten noch spannende Annekdoten über einen desaströsen Auftritt bei einem Talentwettbewerb in der Schule und wie ihn dieser schlussendlich zu seinen ersten Erfahrungen in einer Band führte.

Ebenso gewährte der Musiker einen kurzen Einblick in sein nächstes Buch, welches im Herbst erscheinen soll. Dieses handelt von einem Konzerterlebnis mit Rammstein. Im Buch wird beschrieben, wie die einzelnen Stücke für ihn ablaufen. Wer die Band bereits gesehen hat, der weiss, dass der Mann an den Tasten einiges über sich ergehen lassen muss. Wenn für Song Mein Teil jemand in einen heissen Kochtopf klettern oder sich mit einem Flammenwerfer beschiessen lassen muss, dann trifft es immer denselben – Flake.

Die Autobiografie Der Tastenficker: An was ich mich so erinnern kann lohnt sich nicht nur für Fans der Band, sie zeigt auch die Jugend in der DDR auf und welchen Einfluss sie auf die Entwicklung hatte.

Playlisten und ihre Bedeutung. Ein spannendes Thema in der Zeit der Streamingdienste.

Die Macht der Playlisten

Bevor die Diskussion über die Macht der Playlisten auf dem Programm stand, fand in der Box ein als Highlight angekündigtes Panel statt. Unter dem Thema Deichkind: Das Popkonzert und seine Inszenierung hätte eine spannende Diskussion stattfinden können, doch die Gästewahl sowie der Moderator schien etwas unglücklich gewählt worden zu sein. Nebst der Unsicherheit von Hans Nieswandt (Künstlerischer Leiter Institut für populäre Musik an der Folkwang Universität Bochum), der durch das Gespräch führte, lag es vor allem am Mittteilungsdrang der Musikerin Verena Von Horsten dass keine wirkliche Diskussion entstehen konnte. Björn Benediz, der künstlerische Berater von Deichkind hielt sich dezent im Hintergrund, als sie einen Monolog hielt, warum sie Inszenierung in der Musik nicht befürwortet. Natürlich wird in der heutigen Zeit extrem viel inszeniert und oft steht die Musik dadurch nicht mehr ausreichend im Vordergrund. Aber man kann Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Deichkind spielen vor 60’000 bis 70’000 Menschen, wenn sie am Rock am Ring auftreten. Die Zürcher Musikerin spielt vor etwa 100 Zuschauern. Viele Besucher verliessen während des Panels den Raum, da sie diese Diskrepanz eventuell ähnlich sahen.

Also ging es nach einem eher enttäuschenden Panel einen Raum weiter in die Matchbox. In der Englisch geführten Diskussion wurde die Macht der Streamingdienste und vor allem deren Playlisten besprochen. Wie werden Playlisten von Apple Music, Deezer, Spoitfy und co. zusammengestellt und was sind die Unterschiede der von Menschen kuratierten Listen im Vergleich zu den auf Algorithmen basierenden. Vor allem Sam Lee, der Gründer von Songular Music sorgte mit seinem britischen Charme auch immer wieder für Lacher im Publikum. So zum Beispiel als er beschrieb wie viel die Streamingdienste mittlerweile über die Hörgewohnheiten der Nutzer wissen. So könne für das Dienstagsputzritual eine Liste mit dem Titel Cleaning The Kitchen On Tuesday kreiert werden. Die Musik wird also je länger je mehr auf den Konsumenten zugeschnitten ausgewählt. Deshalb ist es für Bands extrem wichtig, auf diesen Portalen präsent zu sein. Zwar wird durch die Streams kein riesiger finanzieller Gewinn entstehen, doch durch die Steigerung der Bekanntheit können Fans gewonnen werden. Diese geben dann auch für Vinyl oder Konzerte mehr Geld aus.

Ehrung für den m4music-Propheten Philipp Schnyder von Wartensee beim Jubiläumspanel ©m4music

Rückblick auf 20 Jahre m4music

Nahtlos ging es weiter ins Moods. Mit 20 Jahre ENTDECKEN – VERNETZEN – FÖRDERN stand ein weiteres Highlight an. Der Rückblick war in drei Blöcke gegliedert und wurde sehr angenehm von SRF-Moderator Andi Rohrer moderiert. Die extrem gute Vernetzung über die Jahre zeigte sich auch an den Gästen. Tim Renner,  unter anderem ehemaliger Staatssekretär in Berlin und Ex-Geschäftsführer Von Universal Music Deutschland, gehört zu den Stammgästen des Festivals und hat über die Jahre eine tiefe Freundschaft zu Festivalgründer Philipp Schnyder von Wartensee entwickelt. Ebenso war Stephan Thanscheidt, Managing Director des Konzertveranstalters FKP Scorpio. Beim m4music ist er regelmässig auf der Suche nach neuen Talenten, um sie im besten Fall für das Greenfield Festival zu buchen, welches ebenfalls von FKP Scorpio durchgeführt wird. Mit Tobias Jundt von Bonparte und Fabienne Schmuki vom Schweizer Label Irascible war auch für die passende Vertretung der Musikszene gesorgt. Nebst der Geschichte des Festivals wurde ausserdem die zunehmende Digitalisierung thematisiert. Wird der Musikfan in ein paar Jahren noch an ein Konzert pilgern oder wird er gemütlich zuhause mit seiner Virtual-Reality-Brille dabei sein? Werden Computer die Komponisten der Zukunft werden und die grossen Hits digital generiert sein?

Was heute noch ziemlich futuristisch klingt, ist doch ein ernstzunehmendes Thema innerhalb der Musikindustrie. Denn in den Anfangsjahren des m4music wurde die Rolle des noch jungen Internets thematisiert und niemand hätte sagen können, dass wir einmal in einem solchen Streaming-Zeitalter leben würden und das Internet für Bands sowie Labels zu einer der wichtigsten Plattformen wird.

Musikalische Vielfalt mit Nemo…

…oder Roosevelt aus Deutschland

Musikalische Vielfalt

Seit jeher steht das M für Musik, wie es der Festivalname bereits erahnen lässt. Schweizer Newcomer aus allen Sparten sowie internationale Künstler die es noch zu entdecken gilt treten auf den verschiedenen Bühnen auf. Der Besucher hat die Qual der Wahl. Wer möglichst viel entdecken möchte, der muss auch mal bereits sein in der Mitte eines Auftritts die Location zu wechseln. Nemo, der Senkrechtstarter im Schweizer Hiphop eröffnete im grossen Saal des Schiffbaus. Der junge Künstler hatte vor allem Familien und Teenies angelockt und wirbelte voller Energie über die Bühne. Selbst wenn der Lo&Leduc-Stil nicht jedermanns Sache ist, so ist die Leidenschaft und Bühnenpräsenz des jungen Bielers definitive beeindruckend.

Ganz andere Klänge hallten später am Abend durch den Saal, als Roosevelt auf der gleichen Bühne spielten. Als Projekt vom deutschen Sänger Marius Lauber gestartet, sind Roosevelt mittlerweile zur Band gewachsen. Sie sorgten mit ihrem sphärischen Synthie-Pop für einen der besten Auftritte des Abends. Zwar ist der 80ies-Einfluss in der heutigen Musik schon wieder etwas angestaubt, doch die Band schafft es einen erfrischenden Mix mit einer starken Performance auf die Bühne zu bringen.

James Mercer gehört mit The Shins zu den ganz grossen der Indie-Szene

The Shins: Die Rückkehr von James Mercer

Auch bei einem Entdeckerfestival gibt es einen Headliner. Dieser hiess am Freitagabend The Shins und ist wohl jedem Indie-Fan ein Begriff. Mastermind und Sänger James Mercer war bereits 2014 am m4music zu Gast, dazumals begeisterte er mit seinem Nebenprojekt Broken Bells. Das Duo besteht nebst dem Sänger von The Shins aus dem erfolgreichen Produzenten Danger Mouse. Damals war der Anstrum auf die Halle so gross, dass sich vor dem Einlass eine lange Schlange bildete und nicht mehr Personen eingelassen werden konnten. Bei The Shins war alles etwas entspannter. Die Band veröffentlichte jüngst ihr neustes Album Heartworms, welches von den Kritikern sehr unterschiedlich aufgenommen wurde. Das Gesamtwerk der US-Amerikanischen Indie-Pop-Götter bietet jedoch auch ohne das neue Material genügend Songs, die im Genre nicht mehr wegzudenken wären. Die unverkennbare Stimme von Mercer macht den Zauber der Band zu einem Grossteil aus.

Da das m4music ein extrem breit gefächertes Publikum hat, ist die Stimmung oft nicht so ausgelassen, wie an eigenen Konzerten der Bands. So war die Resonanz auch bei The Shins eher verhalten, weshalb sich die Magie nur in kleinen Dosen verbreiten konnte. Das ist vor allem in Anbetracht dessen schade, dass auf dem Tourplan der Band kein weiterer Auftritt in der Schweiz geplant ist. Vielleicht lag es aber auch einfach an der fortgeschrittenen Uhrzeit. Das Konzert startete um 0.30 Uhr. Trotz fehlender Euphorie im Publikum war es ein sehr schöner Abschluss für einen intensiven Festivaltag.

Später Auftritt: The Shins starteten um 0.30 Uhr

Fazit

Das m4music ist und bleibt der wichtigste Anlass für die Schweizer Musikszene. Man kennt und trifft sich Jahr für Jahr. Bei jeder Ausgabe seit 20 Jahren gibt es eine Vielzahl an neuen Bands zu entdecken. Für Musikbegeisterte, die gerne auch etwas über die Hintergründe der Industrie erfahren möchten, ist der Anlass ebenso spannend wie für diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten. Auf die nächsten 20 Jahre!