AJR brachten gestern bei ihrem ersten Schweizer Auftritt so viel Euphorie auf die Bühne des X-Tra, dass das vorwiegend junge Zürcher Publikum schnell vergass, dass eigentlich Sonntag war. Textsicher und lautstark wurden die drei Brüder aus New York bei jedem ihrer Songs unterstützt. Mit ihren Kompositionen ist das Trio stets auf der Suche nach dem perfekten Popsong und lässt das Publikum an deren Entstehung teilhaben.
AJR: Die Strassenmusiker haben den Sprung über den Ozean geschafft
Drei Brüder, die ihre Anfangsbuchstaben als Bandnamen verwenden – das klingt erstmal nicht sonderlich innovativ. Adam, Jack und Ryan haben scheinbar mehr Zeit darauf verwendet, an ihren Songs zu tüfteln, als sich lange um einen Namen zu sorgen. Überhaupt wirken die Musiker nicht sonderlich darauf bedacht, besonders cool zu erscheinen. Statt eines verwegenen Rock-Lifestyles setzen sie auf Nahbarkeit und darauf, dass Schwächen in Stärken umgewandelt werden können. Obwohl die Band seit 2005 existiert, führt sie die OK Orchestra-Tour zum ersten Mal in die Schweiz. Es war ein langer Weg von den Auftritten in den Strassen von New York City zu den internationalen Bühnen.
Jack Met von AJR in Zürich
Der (vermeintliche) Ritterschlag von Elton John
Anlässlich eines Auftritts an den diesjährigen iHeart Radio Music Awards trafen AJR einen der grössten Popstars unserer Zeit. Ryan erzählt die Story so pointiert wie ein Stand-Up-Comedian. Ein Versuch einer Zusammenfassung. Da stehen sie also, die Brüder von AJR, und aus der Ferne winkt ihnen plötzlich der grosse Elton John zu. Natürlich denken sie: Oh shit. Elton John steht auf, kommt auf sie zu, die Gedanken überschlagen sich – es passiert wirklich. Bei ihnen angekommen meint er: Jungs, ich bin ein riesiger Fan von euch, Gratulation zu eurem Erfolg! Er fährt fort: Eure diesjährige Kollaboration mit Justin Bieber war einfach grossartig. Was ihr für Country-Musik geleistet habt, ist schlicht unglaublich. Anstatt etwas zu sagen und aufzuklären, dass sie keine Zusammenarbeit mit Justin Bieber hatten, nehmen die Jungs das Kompliment dankend an, ganz im Bewusstsein, dass er sie verwechselt hat. Wen er eigentlich gemeint hat, sind nämlich Dan + Shay, ein ebenfalls anwesendes Country-Duo.
So put your best face on everybody
Pretend you know this song everybody
Come hang (Come hang)
Let's go out with a bang!
Noch schräger wird es nur noch, als beinahe gleichzeitig durch die Lautsprecher schallt: Als nächstes auf der Bühne «Dan + Shay». Peinlich berührt versucht man der Legende im Anschluss aus dem Weg zu gehen. Doch später am Abend kommt Elton John wieder zurück und sagt, ohne sich etwas anmerken zu lassen: Wie lange war «Bang!» in den Charts? Und «Way Less Sad» läuft auch ganz gut, oder? Es gibt also zwei Möglichkeiten, entweder hat ihn in Zwischenzeit jemand aufgeklärt, oder er hat realisiert, dass diese drei jüdischen Nerds unmöglich in einer Country-Band spielen können.
Der Taubenmann aka Ryan Met
Die Taube aus Reihe Eins
Nach dem Track Ordinaryish People wendet sich Jack Met an einzelne Fans, die ihm während der Performance ins Auge gestochen sind. Er erzählt davon, dass es in seinem Leben etwas gebe, dass ihm richtig Angst mache – und das seien Tauben. Dementsprechend verstörend sei für ihn der Anblick eines Fans in der ersten Reihe, der während des gesamten bisherigen Konzerts eine Taubenmaske trägt. Zum Zweck einer Konfrontationstherapie wird die Maske auf die Bühne gereicht und Bruder Ryan mimt den verstörenden Taubenmann. Entweder die Furcht ist nun geheilt oder die Alpträume werden nach dem Erlebnis noch heftiger.
But I'm way less sadDon't you love it, don't you love it?No, I ain't happy yetBut I'm way less sad
Die OK Orchestra-Tour würde ihrem Namen natürlich nicht gerecht werden, wenn kein Orchester auf der Bühne wäre. Im Fall von AJR besteht dieses im Kern nebst den drei Multiinstrumentalisten aus einem Schlagzeuger und einer Trompeterin. Es ist beeindrucken wie sie eine gesamte Horn-Section ersetzen kann. Auch wenn bei AJR ohne Zweifel gewisse Elemente aus der Konserve kommen, um den gesamten Studiosound auf die Bühne zu bringen, geben die zusätzlichen Musiker den Songs einen gewaltigen Kraftschub.
Von links nach rechts erhält die Band einen neuen Namen: RJA.
How We Made Weak: Erinnerungen an Music Instructor
Schon in den 90er-Jahren haben Music Instructor bei ihrem Track Hymn ein spezielles Stilmittel eingewebt. Bevor der Song beginnt, wird Schritt für Schritt erklärt, wie der nachfolgende Hit entsteht. Bereits die OK Overture, der Opener des Abends enthält ähnliche Elemente, doch mit How We Made Weak gehen AJR auf der Bühne noch einen Schritt weiter. Erst ganz langsam werden die Strukturen, Melodien und Rhythmen des AJR-Hits entblättert und erklärt – von epischen Soundtracks zum Geschrei eines Kleinkindes. Während des Schreibprozesses seien die Nachbarn ziemlich laut gewesen, vor allem ein weinendes Baby habe die Szenerie dominiert. Nach einigen Snare- und Hi-Hat-Sounds kamen die Brüder auf die Idee die «Melodie» des Geschreis zu pitchen und rückwärts abzuspielen. Daraus entstand der charakteristische Zwischengesang im Refrain.
One hit, bad for meOne kiss, bad for meBut I give in so easilyAnd no thank you is how it should've goneI should stay strong
AJR – Ein Tenuewechsel als Zugabe
Der Einfluss von Weezer bei den Zugaben
Es gibt immer wieder Stellen an denen der Sound von AJR an die Experimentierfreude von Weezer erinnert. Im Besonderen an das Piano-basierte Album OK Human von 2021. Sowohl jener Albumtitel als auch der Tourtitel von AJR sind dabei offensichtlich vom Radiohead-Album OK Computer (1997) inspiriert. Als erste Zugabe präsentieren AJR den Song Sober Up. Hierbei kommt zusammen, was zusammen gehört. Als Featuring-Gast ist bei der Studioversion nämlich Weezer-Sänger Rivers Cuomo mit von der Partie. Das passt wie die Faust aufs Auge. Spätestens jetzt weiss man, an wen man bei AJR den gesamten Abend immer wieder denken muss. In näherer Zukunft soll das 5. Album der New Yorker erscheinen, hoffen wir, dass es musikalisch ebenso bunt und abwechslungsreich wird wie der Vorgänger.
© David James Swanson
One for the righteous, one for the ruling class
One for the tyrant, one for the slaughtered lamb
One for the struggle, one for the lasting peace
One for you, and one for me
Die Hände in die Luft für AJR im Zürcher X-Tra
Fazit
Wenn AJR mit ihrer Kreativität am Ball bleiben, dann dauert es nicht wieder fünf Alben, bis sie zurück in Europa sind. Das junge Publikum konnten die Brüder schon gewinnen, bei der älteren Zielgruppe müssen sie über Weezer einen Zugang finden. Die Parallelen sind in Sachen Spielfreude unverkennbar – und Pop ist im Jahre 2022 schon lange kein Guilty Pleasure mehr. Gute Laune können wir alle gebrauchen.