Gefühlt mehrere Wochen scheint ununterbrochen die Sonne, kurz vor dem Openair St. Gallen kündigen sich Wetterkapriolen an. Das Schlammgallen wird seinem Namen wieder einmal mehr als gerecht. Die Besucher der 45. Ausgabe sind zumeist nicht zum ersten Mal im Sittertobel zu Gast und kommen dementsprechend vorbereitet. So oft wie der Schlamm fotografiert wird, könnte man meinen er sei einer der Headliner, dabei spielt sich auf den Bühnen auch einiges ab. Kraftklub, The Lumineers, Picture This, Elif, Sam Himself und Annie Taylor sind nur einige der Namen die am Festivalsamstag aufgetreten sind.
Annie Taylor sind bereit für die Sitterbühne
Zuletzt bespielten Annie Taylor noch die Intro Stage. Mit dem zweiten Album in den Startlöchern und unzähligen Liveshows im Gepäck ist für nun die Zeit gekommen, die Hauptbühne für sich einzunehmen. Beim Slot um 12 Uhr sind viele Festivalbesucher noch in ihren Zelten, trotzdem versammelt sich vor der Bühne eine schöne Menschenmenge. Die Frühaufsteher werden Zeuge von einem Wirbelwind namens Gini Jungi. Die Sängerin von Annie Taylor liefert zusammen mit ihren Jungs eine feurige Show ab. Kurz vor dem Release von Inner Smile gibt es auch neues Material zu hören. Knisternde Energie liegt in der Luft und die Gitarrensaiten brennen. Ein neues Kapitel in der Bandgeschichte beginnt.
Annie taylor spielen zum ersten mal auf der Hauptbühne des Openair St. Gallen
Elif verarbeitet die Erfahrungen einer toxischen Beziehung
Mit ihrer Sonnenbrille wirkt Elif eher unnahbar. Doch sobald die Sängerin, die als Ersatz für Cat Burns auf der Bühne steht, zwischen den Songs eine Ansage macht, wird sie ganz persönlich. Sie erzählt freimütig davon, wie klein sie sich in einer toxischen Beziehung gefühlt habe. Ihr damaliger Freund habe sie mit Sicherheit geliebt. Er klammerte jedoch so sehr, dass er nur noch den Weg sah, sie herabzusetzen, um sie halten zu können.
Aber ich gehör', gehör' nur mir
Gehör', gehör nur mir
Nicht ihr, nicht ihm, nicht dir
Ich gehör' nur mir
Nichts an ihr war gut genug und er wollte sogar, dass sie mit der Musik aufhöre. Mittlerweile könne sie sich nicht mehr vorstellen, wie sie es überhaupt soweit hatte kommen lassen, so an sich zu zweifeln. Sie bestärkt das Publikum darin, sich selbst an erste Stelle zu setzen und sich von niemandem ein falsches Selbstbild einpflanzen zu lassen. Nur Mir setzt ein starkes Zeichen für Selbstvertrauen.
Elif setzt ein statement gegen toxische beziehungen
Picture This kommen aus dem Staunen nicht heraus
Auf der Sternenbühne folgen Picture This aus Irland. Wenn man auf Google nach der Band suche, erscheine zuerst eine App, die Pflanzen bestimmen könne, so die Anmoderation. Vielleicht ändert sich das schon sehr bald. Die Wirkung der sympathischen Musiker auf das Publikum sind ausserordentlich. Gegenseitig schaukeln sich Publikum und Band hoch. Euphorisch werden die Iren für jeden Song gefeiert, egal ob etablierter Radiohit wie Get On My Love oder neue Komposition. Immer wieder steht Sänger Ryan Hennessy etwas fassungslos auf der Bühne. Man spürt, dass die Überraschung über die so gewaltige Reaktion nicht affektiert ist. Auf der Sitterbühne kann man die grossen Stars sehen, auf der Sternenbühne diejenigen, die es in wenigen Jahren sein könnten.
I'm a big dream small-town boy
And you're taking me higher
Yeah, you're taking me higher
Don't ever let me down
Picture This und die Sternenbühne: It's a match
The Lumineers bringen die Wolken zum Weinen
Bisher hat sich das Wetter wacker gehalten. Nachdem der Freitag schon einige Liter Regen ins Sittertobel gespült hatte, ist es am Samstagnachmittag sonnig und warm. Bei den Hits von The Lumineers entscheiden sich die Wolken jedoch erste Freudentränen zu vergiessen. Während Hits wie Ho Hey oder Ophelia rüsten sich die Fans ohne Hektik für den Regen. Hier ist man für jede Wetterlage gerüstet. Mit ihrem vierten Album Brightside hat die US-Band zusätzliche Kompositionen geschaffen, die dem Set eine Frische verleihen.
I can see it in the air
Every word was like a smoke from a cigarette You were blowin' in your hands The heater broke in the Oldsmobile
The Lumineers bringen Folk und Regen mit sich.
Sam Himself ist nicht nur Musiker sondern auch Stuntman
Direkt im Anschluss an The Lumineers bringt Sam Himself auf der Intro Stage sein Stuntprogramm auf die Bühne. Der Basler hat mit seinem zweiten Album Never Let Me Go nicht nur seinen Fondue Western verfeinert, er hat sich auch als Entertainer noch einmal weiterentwickelt. Immer wieder setzen sich die Flausen im Kopf bei ihm durch. So versucht er sich an einem Spagat zwischen Bühne und Absperrung oder er steigt auf die Monitorboxen. Als er zu einem bisher unbekannten Yoga-Move ansetzt passiert es: Der Bariton legt sich rücklings flach auf die Bühne. Das gibt vielleicht etwas Abzug in der Stilnote, aber wie er sich nonchalant wieder aufschwingt und weitermacht, als wäre nichts gewesen, ist grosses Kino. Es ist ihm zu wünschen, dass er seine Kunststücke auch bald auf der grossen Bühne vollführen kann.
Sam Himself lebt auf der Bühne am limit
Kraftklub elektrisieren das Sittertobel
Schon seit ihrem ersten Schweizer Konzert im April 2012, im damals kurz vor der Schliessung stehenden Abart, hat die Band aus Chemniz für Ekstase beim Schweizer Publikum gesorgt. Niemand, der jemals eine Show von ihnen erlebt hat, belässt es bei einem einzigen Mal. So wanderte die Formation um Felix Brummer von der Sternenbühne, in den Mittagsslot auf der Hauptbühne und schliesslich zum Headliner des Samstagabends. In Deutschland veranstalten sie aktuell ihre eigenen Kargo-Festivals und verkaufen alles aus. Egal wie gross eine Fläche ist, Kraftklub können sie mit ihrer Energie füllen. 2023 sind deutschsprachige Indiebands angesagt wie nie und Kraftklub können sich als Urväter dieser neuen Musikergeneration fühlen, obwohl sie selber erst knapp Mitte Dreissig sind.
Rasen gemäht, getrennter Müll
Zwölf Jahre Ehe, Blumenbeet und Weber-Grill Wie sie da steh'n, so gut gelaunt Schau, wie sie beten, dass wir einen Unfall bau'n
Kraftklub haben die Massen im Griff.
überraschungsgäste aus der Familie
In St. Gallen präsentieren sie ihr aktuelles Album Kargo, aber auch ältere Fan-Favoriten. Da im Set nicht jeder alte Song Platz findet, wird in der Mitte des Konzert ein Glücksrad mit einer Songauswahl auf die Bühne gebracht. Eine Zuschauerin darf Glücksfee spielen. Wie schon oft auf der Tour bleibt das Rad bei Alles Wegen Dir vom Album In Schwarz (2014) stehen. Brummer wittert aufgrund der Häufung bereits Manipulation am Rad. Doch man möchte sich nicht beklagen. Es hätte genau so gut das Feld Kurze Rauchpause treffen können. Ein Highlight ist die Performance von So schön. Hierfür stürmen die beiden Schwestern von Felix und Till Brummer bzw. Kummer die Bühne. Sie sind selbst mit ihrer Band BLOND auf dem besten Weg in den deutschsprachigen Indie-Olymp (am 26.11. treten sie im Zürcher Dynamo auf). Die Stimmung kocht, als Schüsse in die Luft und Randale das Set beschliessen, bevor mit Blaues Licht, Ein Song reicht und schliesslich Songs für Liam der Schlamm endgültig vergessen ist. Mittlerweile hat es stark zu regnen angefangen, doch das stört gefühlt niemanden.
Hosenträger und Fackeln: Kraftklub wissen wie man sich in szene setzt
Fazit
Am Openair St. Gallen ist es entweder brüllend heiss oder das Festivalgelände versinkt früher oder später im Schlamm. Das kann anstrengend für den Körper sein, aber es macht das Openair, das seit 1977 besteht, auch einmalig in der Schweiz. Ein kombiniertes Konzert- und Campinggelände findet man so ebenfalls kaum an einem anderen Ort. Das abgehärtete Publikum entgeht den Acts nichts und treibt diese ihrerseits ebenfalls zu Höchstleistungen an. Es ist immer wieder schön im Sittertobel, auch wenn es das Wetter oft nicht ist.